Es müssen neue Bauweisen her

ZEIT ONLINE im Interview mit Adrienne Goehler

ZEIT ONLINE: Adrienne Goehler, worüber denken Sie gerade nach?

Adrienne Goehler: Gerade haben mein kleines Team und ich die Ausstellung beendet und abgebaut, deren Initiatorin und Kuratorin ich war und die 13 Jahre lang mit mir um die Welt gereist ist: »Zur Nachahmung empfohlen! Erkundungen in ÄstheTIk und Nachhaltigkeit«. Sie hat insgesamt 139 Künstler:innen an 29 verschiedenen Orten auf vier Kontinenten gezeigt, mit etwa 240.000 Besucher:innen insgesamt und zahllosen Gesprächen mit und zwischen den Kunstwerken, Gesprächen zwischen Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft. Nun ist diese Ausstellung in Berlin zu Ende gegangen, und aus dem Reservoir an Erfahrungen, die ich gemacht habe, soll ein neues Pilotprojekt entstehen. Darüber denke ich gerade nach. Die künstlerischen Beiträge zu den großen Fragen des Überlebens werden bisher nicht ernst genug genommen, das halte ich für einen fatalen Irrtum. Denn ohne sinnliche Erkenntnis kriegen wir die Jahrhundertaufgaben nicht hin. Jetzt ist es einfach Zeit zu handeln. Ich suche mit vielen anderen nach neuen Wegen.

ZEIT ONLINE: Kunst und Handeln, das passt üblicherweise nicht zusammen, denn Kunst gilt als von den Zwängen der Welt entbunden, und Handeln als ein Kompromiss mit den Spielräumen der Realität. Was meinen Sie damit, dass Zeit ist zu handeln?

Goehler: Will die Kunst denn überhaupt noch von Wirksamkeit »entbunden« sein? Ist dieses Bild nicht überholt? Im durchbürokratisierten, verplanten Deutschland mit seinen hermetisch abgeschotteten Ressorts und deren Denk-Silos steht die Einsicht an, dass Kunst, Wissenschaft
und Bewegungswissen sich füreinander öffnen, um neue Wege einschlagen zu können – und diese auch wahrnehmbar begehen wollen. Immer noch wird in den deutschen Institutionen, säuberlich nach Zuständigkeiten sortiert und so lange alles Interessante weggeschaufelt, bis nur noch die ‚reine Kunst‘ übrig ist, die eine zumeist weiße Oberschicht als Plaisir und Geldanlage wahrnimmt. Aber das schöpft keineswegs die Fähigkeiten von Kunst aus. Mit diesen müssen wir neue Wege gehen. Ich halte es mit Albert Einstein, der sagte, wir könnten die Probleme nicht mit den Mitteln lösen, die sie uns eingebrockt haben.

ZEIT ONLINE: Welche Mittel, die wirken, soll Ihr Pilotprojekt vor Augen führen, was haben Sie vor?

Goehler: Die Kunst hat sich längst Materialien angeeignet, die weit über Pinsel und Farbe und Installationen hinausgehen. Die Ausstellung hat gezeigt, wieviel die Kunst heute von erneuerbaren, nachwachsenden Rohstoffen als Baumaterialien versteht. Sie hat gezeigt, wieviel Wissen etwa über Schafwolle, Rinde, Hanf und Pilze weltweit versammelt ist und künstlerisch gestaltet wurde. Dieses Wissen wartet drängend auf seine Umsetzung in einer aufgeschlossenen Gesellschaft. Mit der wissenschaftlichen Materialforschung gemeinsam entstehen gerade Vorschläge und Einfälle, die der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Förderung bedürfen. Wir wissen doch alle, wie Hochtief und die Heidelberger Zement mit den Hufen scharren, um in den Kriegs- und Krisengebieten mit den alten CO2-intensiven Baustoffen an den Wiederaulau zu gehen. Denen möchte ich gern die Stirn bieten. Für den Planeten wird dieser Bausektor zu bedrohlich. 70% Flächenverbrauch, 40% aller CO2 Emission gehen auf sein Konto.

ZEIT ONLINE: Was ist die AlternaFve, was sind die Einfälle und Vorschläge?

Goehler: Ich möchte in dem Pilotprojekt tatsächlich in der Praxis mit Menschen, die kein Dach mehr über dem Kopf haben, neue Häuser bauen, ob in der Ukraine, in Syrien oder in der Türkei. Die Ukraine kriegt es unter schwierigsten Umständen hin, jetzt anzukündigen, dass sie in sechs zerstörten Dörfern anders aulauen möchte als bisher. Das Pilotprojekt, das wir vorhaben, möchte am Alltagswissen der Leute anknüpfen, nehmen Sie das Beispiel des Baustoffs Rinde: Wer im Wald lebt, versteht etwas von Rinde. Wie kann es sein, dass in Deutschland gegenwärtig jährlich vier Millionen Kubikmeter an Rinde als Müll vernichtet werden, die sich als Dämm-Material eigenen würden? Oder nehmen Sie das Beispiel der Schafwolle…

ZEIT ONLINE: Was hat die Schafwolle mit Kunst zu tun?

Goehler: Ich verdanke der Künstlerin Folke Köbberling das Wissen, dass in Brandenburg eine Schafschur vor der Wende ein halbes Monatsgehalt bedeutet hat, heute aber wird Schafswolle als Sondermüll vernichtet, obwohl sie ein hervorragender Lärmabsorber ist und Wärme erzeugt, allein oder in Verbindung mit Hanf, Pilzen und Rinde zu einem wasserabweisenden Baustoff verarbeitet werden kann. Das hat die Ausstellung mir in ihren künstlerischen Workshops wie eine alchemistische Erfahrung vor Augen geführt. Es ist beglückend zu erleben, wie Kunst und Forschung zusammen, wie in einer küntigen Hexenküche, den Bausektor neu erfinden könnte, der bisher so horrende energieintensiv arbeitet. Die Herstellung einer Tonne Zement bedeutet Emissionen von 700 Kilogramm CO2, es fehlt an Sand, an Wasser, kurzum: Es müssen neue Bauweisen her und umgesetzt werden. Weltweit wird damit experimenFert, kaum jemand weiß davon.

ZEIT ONLINE: Wo soll diese Rohstoff-Alchemie zu echten Häusern werden? Wie soll in so dicht verstädterten Gebieten wie Hamburg-Wilhelmsburg oder in Berlin-Friedrichshain mit nachwachsenden Baustoffen experimentiert werden?

Goehler: Ich verbinde die Idee derzeit am stärksten mit Bewohner:innen aus Dörfern der ukrainischen, syrischen, türkischen Kriegs- und Krisengebiete die ihr Zuhause verloren haben. Es geht um Selbstermächtigung statt Ohnmacht. Wir wissen aus der Traumaforschung, dass
ein Trauma eher bewältigt werden kann, wenn man durch eigenes Handanlegen erleben kann, wie dort etwas Neues entsteht, wo das Alte unwiederbringlich zerstört ist. Dort Neues zu erproben, wo sich jetzt schon das internationale Bauindustriekartell höchste Gewinne verspricht, finde ich dringlicher und ermutigender, als in Neukölln oder Moabit eine Datsche aus Lehm, Schafswolle und Pilzen zu bauen. Schon klar, dass das ein David gegen Goliath ist.

ZEIT ONLINE: Was haben Sie für dieses kommende Projekt in den 13 Jahren der Ausstellung gelernt?

Goehler: Ich habe gelernt, dass die Idee, die an ihrem Anfang stand, nämlich einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit zu fordern, Bestand hat und hoffentlich inzwischen reif genug ist, um von der Politik wahrgenommen zu werden. Ich habe gelernt, dass Kunst nicht lügen
muss, denn sie muss zunächst nichts beweisen. Sie kann behaupten, ausprobieren. Die Ausstellung hat als Prinzip gegen den Neuheitswahn in der Kunst nur Kunstwerke aufgenommen, die bereits existierten. Und sie hat Einfälle in die Wirklichkeit entlassen: Der Kieler Erfinder Kuhtz mit seiner Waschmaschine, die er durch Fahrradpedale antreibt, hat die Ausstellung ins äthiopische Addis Abeba geführt. Dort fällt mehrmals täglich der Strom aus und gleichzeitig gibt es einen der fantastischsten Altwarenmärkte der Welt. Die mit Pedalkraft betriebene Waschmaschine und die Zu-Hause-Kraftwerke von Kuhtz sind dort nachgebaut worden. Die Kunst daran ist das Sprengen von Grenzen, das Aufspüren von Möglichkeiten.

ZEIT ONLINE: Aus allem, was Sie sagen, klingt die Sehnsucht, dass Kunst gesellschaftlich von Belang ist, nach dem Moco »Art matters«. Ist das eine senFmentale Sehnsucht rückwärts, in die Zeit um 1800, als Kunst und Wissenschaft wirklich offen füreinander waren und dadurch wirksam? Oder sehnen Sie sich nach einer Bewegung vorwärts?

Goehler: Mit »Art matters« verbindet sich für mich der Gedanke der Befreiung der Kunst aus den Klauen des Kunstmarkts und der schnelllebigen Kunsrörderung. Wir gehen fahrlässig mit der künstlerischen Kreativität um. Wir fördern nur das Neue, Antrag für Antrag, alle drei Monate ein neuer Schnellschuss. Die Jurys nehmen sich das Recht der ersten Nacht, indem sie immer nur Frischware auszeichnen. Dabei wissen wir alle, dass Sex in der ersten Nacht ziemlich kompliziert ist und jedenfalls kein reiner Genuss. Er braucht dafür Zeit, Entwicklung. Die Kunst ist durch die kurzatmigen Förderstrukturen in Selbstbeschäftigung gefangen. Auf diese Weise produzieren wir nicht nur zu viele Autos und Joghurtbecher, sondern auch zu viel Kunst.

ZEIT ONLINE: Und doch sprechen auch Sie vom Neuen, wenn Sie sagen, wir müssten neue Wege gehen.

Goehler: Die Wege, die ich meine, sind aber oft alte, wenn wir nach den Kulturtechniken fragen. Wie hat man früher Wasser gereinigt? Durch Filz, Kiesel, Sand, Kohlefilter. Weithin vergessen. Solche dezentralen Techniken werden in der sogenannten Entwicklungshilfe noch allzu oft, wie auch die erneuerbaren Baustoffe, für micelalterlich gehalten. Die Industrienationen meinen, die neuesten Technologien liefern zu müssen, damit man sie ernst nimmt, diese sind aber auf unverantwortbare Weise energieintensiv. Anderes Wissen ist zumindest ebenso wirksam: Wo Schafe weiden, gibt es keine Borreliose, weil sie das Gras kurzhalten. Ihre Wolle enthält das heilsame Fec Lanolin. In den neu zu kultivierenden Moorlandschaften sind Schafe wichtig, weil sie das Moor durch ihren Tritt sowohl befestigen, als auch durchwässern. All das wird man nicht micelalterlich nennen können. Und all dieses Wissen kommt heute vor allem aus der Kunst. Man muss sie nur machen lassen. Und dabei soll die Kunst nicht wie bisher so oft der Fall durch eine hübsche Schleife die Wissenschaft schöner machen. Sie ist nicht der Beistelltisch oder Beilagensalat. Sie ist die Hauptsache und will mit Wissenschaften gleichberechtigt forschen, bei gleicher Bezahlung.

ZEIT ONLINE: Welches Beispiel aus der Ausstellung haben Sie für diese These vor Augen?

Goehler: Die koreanische Künstlerin Jae Rhim Lee, die am MIT in Boston forschte, hat das Publikum elektrisiert, weil sie die Menschen als eine Sondermülldeponie auf zwei Beinen wahrnimmt. Auf Grund all der toxischen Chemikalien, die sie heute in sich tragen, sind sie nach ihrem Tod eine Umweltlast. Deshalb hat sie einen Leichenanzug erfunden, der mit einem Geflecht überzogen ist, in das körpereigene Sporen eingearbeitet sind und das eine möglichst rückstandslose KomposFerbarkeit des Menschen ermöglicht. An der Weiterentwicklung dieses Sporengeflechts arbeitet die Künstlerin gerade. Sie müsste in einem größeren Verbund mit Technik und Forschung arbeiten könne. Darum geht es mir.

ZEIT ONLINE: Bitte erzählen Sie noch ein Beispiel, einfach um der Anschaulichkeit dieser ungewohnten Ideen willen…

Goehler: Nehmen wir eines vom anderen Ende des Lebenszyklus: den Müll aus Windeln. Jedes Kind verbraucht mindestens 4800 Windeln, bis es keine mehr braucht. Gerade erleben wir, wie die Milliardenbevölkerung Chinas die Freude an Pampers entdeckt. Und nun hat die japanische Künstlerin Ayumi Matsuzaka, die mich auch 13 Jahre lang in der Ausstellung begleitet hat, komposFerbare Windeln aus Hanffasern erforscht. Die Exkremente von Säuglingen und Kleinkinder liefern besten Humus, wenn die Windeln aus abbaubaren Wertstoffen bestehen. Was knapp ist, ist fruchtbarer Boden, den können wir entstehen lassen. Das Wissen über Terra Preta kommt aus dem Amazonas, Ayumi Matsuzaka hat es aufgenommen, stellt schon lange Erde her, nun auch kompostierbare Windeln.

ZEIT: Das ist wunderbar, aber was ist daran die Kunst?

Goehler: Die Künstlerin fasst im Austausch mit der Wissenschaft einen komplexen Gedanken, um ihren eigenen Radius zu erweitern und das Ergebnis darstellbar zu machen. Es bedarf der Wahrnehmung durch alle Sinne, um die Wirklichkeit zu ändern. Nur durch die Kunst wird die
Sinnlichkeit der notwendigen Veränderung sichtbar. Alle Micel, alles Wissen werden für diese Sichtbarkeit gebraucht. Deshalb sollte das neue Pilotprojekt transdisziplinär, ressortübergreifend finanziert werden: durch Gelder vom Wirtschaftsministerium, die wie das Auswärtige Amt über Mittel aus der Internationalen Klimainitiative verfügen, den Ministerien Umwelt, Forschung und natürlich aus dem Kulturetat. Es ist hohe Zeit, dass auch die Ressortgrenzen durchlässiger werden.

Bio:
Adrienne Goehler, 67, hat die Wanderausstellung »Zur Nachahmung empfohlen« initiert und als künstlerische Leiterin kuratiert. Goehler war Präsidentin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin und Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds. Sie hat auch Bücher zum Grundeinkommen als Grundauskommen veröffentlicht.